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Systematische Verelendung

Ankunft in Frankfurt

Aussagen von Dr. Ryszard Kojer und Zygmunt Kaczmarski:

»Wir kamen in Frankfurt am Main am 29.9.1944 gegen Nachmittag auf dem Güterbahnhof an. In von SS-Männern umstellten Gruppen zu je 100 Mann führte man uns durch einen zerstörten und fast menschenleeren Stadtteil über die Anschlussgleise zu den Adlerwerken. Vom Augenblick des Abbiegens von der Straße in das Fabrikgelände durch teilweise zerstörte oder ausgebrannte Gebäude und Hallen begann das Schlagen und Treten. Das war der Anfang.«

Dr. Ryszard Kojer und Zygmunt Kaczmarski berichten weiter:

»Man führte uns in die Fabrikkeller, die als Luftschutzkeller dienten. Hier fehlte es nicht an SS-Männern auf jedem Treppenabsatz und jeder Korridorbiegung, die beim Durchzählen der Gefangenen nicht vor dem Gebrauch von Stöcken, Gummiknüppeln oder Stiefeln zurückschreckten. Endlich waren wir zu je 100 Mann in die unterirdischen Bunker aufgeteilt. In den Luftschutzbunkern gab es kein Wasser, außer zwei Fässern, in denen sich eine verfaulte und verschimmelte Flüssigkeit befand, die einmal Wasser gewesen war. Diese verfaulte und verschimmelte Flüssigkeit, die wir, wie jeder konnte, mit bloßen Händen, Schachteln, Mützen usw. ausschöpften, hatten wir sehr schnell ausgetrunken. Da man zu viele Leute in jedes Zimmer gedrängt hatte, gab es praktisch keine Möglichkeit, sich hinzulegen oder wenigstens sich hinzusetzen. Nach dieser furchtbar ermüdenden Nacht gab man jedem von uns am Morgen einen halben Liter Kaffee — uns, die wir vor Durst fast verrückt waren, da wir vier Tage und Nächte nichts zu Trinken bekommen hatten. So standen wir noch drei Tage und Nächte hindurch, vor Durst und Müdigkeit fast ohnmächtig. Am vierten Tag endlich führte man uns aus dem Keller ins Freie.«

aus: Kaiser, Ernst und Knorn, Michael: Wir lebten und schliefen zwischen den Toten , 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Campus-Verlag, S. 142

Unterkunft und Kleidung

Heinz Aber, der zuvor in vier KZs inhaftiert war, bewertete Unterkunft (zuständig: Adler) und Kleidung (zuständig: die SS) in den Adlerwerken als »das Schlimmste, was ich jemals gesehen habe.«

Dass die Häftlinge »in beschädigten Räumen, in Ruinen hausen mussten«, wurde in den folgenden Monaten sogar unter Werksangehörigen zum Tagesgespräch. (Adler-Krankenkassenangestellte Susanne Müller 1987 in einem Gespräch mit den Autoren Ernst Kaiser und Michael Knorn). In Verbindung mit der fehlenden Ausstattung und Überbelegung des völlig desorganisierten Lagers, einer katastrophalen Kleiderversorgung sowie eines sibirischen Kälteeinbruchs um die Jahreswende 1944/45 entstanden hygienische Verhältnisse, die von den Häftlingen im Vergleich mit Auschwitz-Jawischowitz als »grauenhaft« angesehen wurden. (Heinz Meyer 1993 gegenüber den Autoren) Heinz Aber, der zuvor in vier KZs inhaftiert war, bewertete Unterkunft (zuständig: Adler) und Kleidung (zuständig: die SS) in den Adlerwerken als »das Schlimmste, was ich jemals gesehen habe.«

Nach dem Luftangriff vom 12. September 1944 bei dem u.a. der für das KZ vorgesehene Gebäudeteil schwer beschädigt wurde, schob man Innenausbau und Einrichtung der Häftlingsunterkünfte zu Gunsten anderer Bau- und Reparaturmaßnahmen auf. Ryszard Kojer und Zygmunt Kaczmarski berichten, wie sie nach drei Tagen im Luftschutzkeller in eine ca. hundert Meter lange Fabrikhalle geführt wurden, »die unser Quartier werden sollte, die aber noch voller Feuchtigkeit und Wasser war. Die Decke ... war gerade erst mit Zement abgedichtet worden und tropfte noch. In der Halle selbst wurden erst mehrstöckige Holzbetten aufgestellt. Die meisten von uns Gefangenen mussten auf dem feuchten Fußboden schlafen.« (Kojer, Dr. Ryszard / Kaczmarski, Zygmunt in ihren Notizen von 1985)

Die zerbrochenen Fensterscheiben wurden nur partiell ersetzt, und die Geschossdecke blieb undicht, so dass der sehr niederschlagsreiche Herbst und Winter und viel Schnee im Januar 1945 dazu führten, dass der Schlafsaal teilweise unter Wasser stand. Dafür gaben die defekten sanitären Anlagen kaum Wasser. Ryszard Kojer und Zygmunt Kaczmarski: »Es gab keine Möglichkeit, sich zu waschen. In den Waschräumen fehlte sehr oft sogar kaltes Wasser (ganz zu schweigen warmes). Seifenstücke, die einige noch aus Dachau mitgebracht hatten, waren längst verbraucht. Neue gab es nicht. Handtücher oder irgendwelche Lappen wurden nicht verteilt.«

Das Lager hatte eine Fläche von 1300 m², d.h. pro Häftling war das kaum mehr als ein m². Vielfach mussten zwei Häftlinge in einem »Bett« schlafen, die Decken reichten nicht. Wie Josef Jozwiak sich im Gespräch mit Kaiser/Knorn 1985 erinnert, »waren da genau (...), die Zahl weiß ich ganz genau, perfekt 500 Decken. Also schliefen wir, wieviele Tage weiß ich nicht, auf den Betten mit fünf Mann zusammen, zwei Decken unten und eine Decke oben benutzend.« Die nach dem Krieg ermittelnden Kriminalbeamten waren empört darüber, »dass die Häftlinge kein Stroh für ihre Betten zur Verfügung hatten und auf den blanken Brettern liegen mussten. Die Versuche, Stroh für das Lager zu beschaffen, sind anscheinend schon in ihren Anfängen erstickt (worden), da verschiedene Leute diese Arbeit aufgrund eigenmächtigen Eingreifens anscheinend unterbinden konnten, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.« Durch die Aussage eines Adler-Kraftfahrers war bekannt geworden, dass der damalige Einkaufsdirektor die Anlieferung von Stroh hintertrieben hatte.

Ab Dezember 1944 bis Ende Januar 1945 sank das Thermometer manchmal auf minus 19 Grad. Die Häftlinge verfügten nur über Sommerkleidung, Holzschuhe und eine Kappe.

Es gab bei klirrender Kälte weder Heizung noch Öfen. Ab Dezember 1944 bis Ende Januar 1945 sank das Thermometer manchmal auf minus 19 Grad. Die Häftlinge verfügten nur über Sommerkleidung, Holzschuhe und eine Kappe, die gegen Kälte und Nässe kaum schützten. Sie arbeiteten und schliefen darin, und nach kurzer Zeit bestand diese Häftlingskleidung nur noch aus Lumpen. René Kern sah darin eine gezielte Absicht: »Wir sollten Ekelgefühle hervorrufen, alles wurde in dieser Absicht gemacht: lebende Skelette, dreckig, unrasiert, kahlgeschoren, Häftlingskleidung, mitleiderregende und abstoßende Lumpen (wirkliche Vogelscheuchen), mit Ungeziefer bedeckt, alle mehr oder weniger krank.« (in seiner Korrespondenz mit Kaiser/Knorn 1986)

aus: Kaiser, Ernst und Knorn, Michael: Wir lebten und schliefen zwischen den Toten , 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Campus-Verlag, S. 163-171

Ernährung unter dem Existenzminimum

Als der Häftling Gottlieb Sturm Anfang Februar 1945 in den Adlerwerken eintraf, stellte er fest, dass sich die Häftlinge im Lager »Katzbach« in einem bedeutend schlechteren Ernährungszustand befanden, als die Neuankömmlinge aus dem KZ Buchenwald. Er schildert detailliert den KZ-»Speiseplan« für die breite Mehrheit der Häftlinge: »Tags: sechs Mann ein Brot zu 1.500 Gramm; 1 Liter dünne Wassersuppe, die nie Kartoffeln, sondern nur Kartoffelschalen enthielt. Abends: Die gleiche Suppe und nochmal sechs Mann ein Brot zu 1.500 Gramm. Die Nachtschicht bekam um 24.00 Uhr entweder eine Suppe oder fünf Mann ein Brot und eine Scheibe Wurst ...«

Adlerwerke damals

Das ehemalige KZ, von den Bahngleisen aus gesehen.

Foto: Barbara Aumüller

(aus: Kaiser/Knorn Wir lebten und schliefen zwischen den Toten)

Die körperlichen Reserven waren bei dieser sehr wasserhaltigen Kost ohne Nährwert in zwei bis drei Monaten aufgezehrt, die Widerstandskraft gegen Krankheiten geschwächt. Ernährungsphysiologisch bewirkte dies in Verbindung mit dem Arbeitseinsatz einen rapiden Kräfteverfall sowie zahlreiche Erkrankungen durch Eiweiß-, Fett- und Vitaminmangel. Der Hungertod bzw. durch Hunger verursachte Krankheiten wurden nach wenigen Monaten zur ausschlaggebenden Ursache für das Massensterben von Häftlingen.

»Das Essen war wenig und primitiv. Täglich wurden die Häftlinge schwächer und weniger.« (Bericht der Werksangehörigen und Rotkreuzschwester Elisabeth B. an die amerikanische Militärregierung 1945). Der Einrichter Bruno B. 1987 im Gespräch mit den Autoren Ernst Kaiser und Michael Knorn: »Die haben mir gesagt, ich soll‘s probieren. Ich habe nur daran gerochen, da habe ich schon genug gehabt.«

Als Lagerkoch nahm SS-Scharführer Weiß eine Schlüsselrolle ein. Der Häftling Kazimierz Doszla: »Weiß ging immer mit einem Gummiknüppel im Lager herum, schlug Leute ohne besonderen Grund, war immer betrunken. Weiß unterschlug Lebensmittel, die er im Magazin empfing, wobei Häftlinge Zeugen waren. Auf dem Weg zum Lager wurden die Lebensmittel an Geschäfte gegen Schnaps eingetauscht.« (Aussage gegenüber der Kriminalpolizei Frankfurt am 2.12.1946) Der Häftling Josef Jozwiak: »Er war ein dreckiger, dreckiger Kerl. Da sind Kartoffeln angekommen — ich glaube für die ganze Mannschaft fünf Säcke — und er hat einen erwischt, der sich zwei Kartoffeln eingesteckt hat. Weiß hat ihm die Kartoffel in den Mund gestopft, ihn am Hals gepackt und hat ihm die Kartoffel mit der Faust im Mund zerkleinert — so hat er auf ihn eingedroschen. Das war der Schlimmste!« (im Gespräch mit den Autoren, 1985)

Einige Häftlinge versuchten ihre quälenden Hungergefühle durch die Einnahme von Chemikalien zu stillen. Der Häftling Johann Kopec erklärte: »Salz war wenig oder gar nicht im Essen. Einige Häftlinge gingen dazu über und entwendeten in den Adlerwerken chemisches Salz, welches sie dann als Kochsalz verwendeten. Die Folge waren Vergiftungserscheinungen, die sehr oft tödlich wirkten.« (Aussage bei der Kriminalpolizei Frankfurt am 29.11.1946)

Über den qualvollen Tod eines Häftlings und die unterlassene Hilfeleistung des Lagerleiters Franz berichtete der Einrichter Hans K. gegenüber der Kriminalpolizei Frankfurt am 14.11.1946: »Einmal während einer Nachtschicht (...) stellte ich fest, dass ein Häftling an seiner Maschine plötzlich blass wurde, ihm der Schweiß auf die Stirn trat und er umzufallen drohte. Ich befragte einen in der Nähe stehenden Häftling, was ihm fehle. Darauf antwortete er mir, dass dieser Salz gegessen habe. Ich stellte darauf fest, dass es sich um »Radikal« handelte, welches zum Materialabkochen benutzt wurde. Da ich keine andere Möglichkeit zur Verfügung hatte, meldete ich dies sofort dem anwesenden SS-Posten, um den Häftling zur Verbandsstation bringen zu dürfen. Dies lehnte der jedoch ab mit der Begründung, dass er das erst dem Lagerführer melden müsse, der dann zu entscheiden habe, was mit dem Mann zu geschehen habe. Er ging dann — es war nachts gegen 2 Uhr — den Lagerführer wecken. Nach einiger Zeit kam dieser, und ich meldete ihm den Vorfall. Franz lehnte jedoch jede Hilfe kategorisch ab und meinte, wenn der Gefangene »Radikal« gefressen habe, dann wolle er auch sterben, und dann solle er es ruhig. Der Häftling wurde dann in einen unbenutzten Waschraum gebracht, wo ich noch versuchte, ihn durch Wasser zu erfrischen. Gegen Morgen ist er dann verstorben.« Lagerkommandant Franz, der später behauptete, er habe die Häftlinge belehrt, dass dieses Präparat giftig sei, kommentierte den Tod durch Vergiftung aufgrund quälenden Hungers und Durstes nach dem Krieg vor der Staatsanwaltschaft mit der lapidaren Bemerkung: »Die Folge dieses Salzgenusses war, dass sie mitunter innerhalb einer Stunde starben«. Und der Erklärung: »Viele nahmen es auch wahrscheinlich deshalb, um ihrem Leben ein Ende zu setzen.« (Vernehmung von Kommandoführer Erich Franz am 17.2.1964 durch die österreichische Staatspolizei für das Hessische Landeskriminalamt)

Nach dem Krieg schoben sich die Direktion der Adlerwerke und die SS-Lagerleitung gegenseitig die Verantwortung an der Ernährungslage der KZ-Häftlinge zu.

aus: Kaiser, Ernst und Knorn, Michael: Wir lebten und schliefen zwischen den Toten , 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Campus-Verlag, S. 175-177

Hygiene und Läuseplage

Die Läuseplage war das Schlimmste. Alle, so beobachtete Max Loock, waren ständig damit beschäftigt, »die unzähligen Läuse von ihren bereits total zerfressenen Körpern zu töten.« (aus seinem Bericht an den Betriebsrat der Adlerwerke 1946) Die Läuse sammelten sich vor allem im Nabel und in offenen Wunden. Stanislaw Madej, der bei Daimler-Benz aufgrund ausreichender täglicher Waschmöglichkeiten, regelmäßigen wöchentlichen Badens und zweitäglicher ‘Läusekontrolle’ keine Verlausung kannte, bekam »ein Geschwür an der Brust, welches in der Erste-Hilfe-Station aufgeschnitten wurde. Am folgenden Tag nahm ich den Verband herunter und erblickte in der ganzen Wunde eine ungeheure Anzahl von Läusen, die ich mit einem Löffel beseitigen musste.« (in einem Fragebogen bei der KZ-Gedenkstätte Mannheim-Sandhofen) Wladyslaw Jarocki: »Die Fingernägel haben wir uns mit den Zähnen abgeknabbert, damit wir uns nicht kratzen konnten. Jede Wunde heilte nicht mehr.« (im Gespräch mit Kaiser/Knorn 1990)

Wie der Betriebsleiter der Motorenabteilung Josef W. 1946 bei der Kriminalpolizei Frankfurt zu Protokoll gab, wurden er und viele andere Werksangehörige »insbesondere wegen der starken Verlausung der Häftlinge« bei Dr. Engelmann (Abwehrbeauftragter der Adlerwerke, Prokurist und Verwaltungsdirektor der Personalabteilung) vorstellig: »Engelmann lehnte die Entlausung der Gefangenen jedoch unter dem Vorwand ab, dass keine Kohlen dazu vorhanden wären.«

Vermutlich zwang die Angst vor Typhus die Lagerverwaltung schließlich dazu, sich über die Vernichtung der Läuse Gedanken zu machen. Dreimal, im Oktober und Dezember 1944 sowie im März 1945, wurden die Häftlinge in die Ackermannschule zum Baden und zur Entlausung geführt.

Jozef Marcinkowski beschreibt den ersten Gang: »Endlich erreichten wir die Badeanstalt. Bad und Desinfektionsabteilung waren nicht groß. Die Desinfektionszellen waren sehr klein. Die Duschen waren defekt. Das Wasser war eiskalt. Die Leistung war gering. Wir standen nackt ausgezogen, aneinander geschmiegt und warteten bis wir an der Reihe waren. Das dauerte ungefähr sechs Stunden. Wir kamen so schmutzig zurück, als hätte es das Bad nicht gegeben. Unsere Kleidung war vertauscht und nass. Dafür trugen wir sieben Verstorbene und zehn Halbtote ins Lager zurück. Die Läuse hatten nicht einmal einen Schnupfen bekommen. Daraufhin kamen die SS-Männer zu dem Schluss, dass die Lagerunterkünfte desinfiziert werden müssten. Es fand sich sogar eine Spezialfirma. Zwei Tage später wurden wir in die Bunker gejagt, wo wir zwei Tage nackt sitzen mussten. Im dritten und vierten Stock, wo sich unser Lager und das ‘Revier’ befanden, wurden spezielle Schwefelkerzen angezündet. Als wir nach zwei Tagen und Nächten zurückkamen, starben zwei von uns, bevor es uns gelang, die vergitterten Fenster aufzureißen, und vierzehn weitere während der Nacht.« (in seiner Autobiografie, 1976)

René Kern schildert die Situation ab Dezember 1944: »Körperpflege und Hygiene gab es nicht, man aß, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, Abfälle, man lebte und schlief zwischen den Toten, den Leidenden, den Kranken, den Fiebernden, den Tuberkulose- und Ruhrkranken, den Sterbenden, die ihre Bedürfnisse auf sich selbst und auf ihre Kameraden verrichteten (ein widerlicher Gestank verbreitete sich überall).« (Korrespondenz mit Kaiser/Knorn, 1986)

aus: Kaiser, Ernst und Knorn, Michael: Wir lebten und schliefen zwischen den Toten , 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Campus-Verlag 1998, S. 170-171