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Frankfurter Rundschau:

Eine Geranie für den toten Bruder zum Gedenken

Nach mehr als 50 Jahren kehrt der ehemalige Zwangsarbeiter Zygmunt Swistak an die “Schwelle zur Hölle" zurück

Zygmunt Swistak (73) wollte Frankfurt nicht wegen des schmucken Römerbergs, des nachts blinkenden Messeturms, sondern wegen jener Gedenktafel zur Erinnerung an die von den Adler-Werken in der Nazizeit ausgebeuteten und ermordeten Zwangsarbeiter besuchen. Am Gedenkstein auf dem Hauptfriedhof legte der 73jährige am vergangenen Dienstag eine Geranie nieder, dort, wo der Name seines Bruder Tadeusz in den Stein gemeißelt steht. Wo und wie Vater Florian ums Leben kam, weiß niemand. “Vermutlich auf dem Transport nach Buchenwald", sagte er, der als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt hat. Die drei Männer waren im September 1944 ins Arbeitslager der Adlerwerke verschleppt worden. Nach mehr als 50 Jahren besuchte der gebürtige Pole und längst australische Staatsbürger erstmals wieder Deutschland. Mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes konnte er das Grab des Bruders, wo die Gebeine von 528 Zwangsarbeitern ruhen, erst 1997 ausfindig machen. Damals beschloß er, die Reise in die Vergangenheit zu wagen, zurück an den Ort, an dem er die “Schwelle zur Hölle" überschritten hatte, wo ihm Bruder, Vater und die Nachtruhe geraubt worden sind. Bis heute plagen den 73jährigen Alpträume. “Es ist schwer hier herzukommen, aber ich bin froh, es getan zu haben."

Zu wissen, wo der Bruder ruht, das Grab besucht zu haben, “das beruhigt mich". Als beruhigend empfindet er auch, “daß es Menschen gibt, die die Erinnerung wachhalten". Es war purer Zufall, daß Zygmunt Swistak just in jenem Moment an dem Gedenkstein verweilte, als Mitglieder des Adler-Motoren-Veteranen-Clubs (AMVC) einen Kranz niederlegten. “Wir verneigen uns vor den Toten", sprach der AMVC-Fahrtleiter Hans Emmert. Anläßlich des 25. AMVC-Jahrestreffens hielt man es im Oldtimer-Club für selbstverständlich, an jene Zeiten zu erinnern, als Adler braun und im Werk “Vernichtung durch Arbeit" für Zwangsarbeiter zur schrecklichen Realität wurde. Mindestens 1600 Russen und Polen waren 1944/45 ins KZ-Außenlager der Adler-Werke verschleppt worden. “Wir haben zwölf Stunden nachts gearbeitet, kaum zu essen und trinken bekommen, und wer krank wurde, kam ins 'Krankenlager' und kehrte niemals zurück. Wir wurden geschlagen, getreten. Die Appelle dauerten manchmal zwei Stunden am Stück", erzählte Zygmunt Swistak, der in der Panzerproduktion eingesetzt war. Das Dach, unter dem er schlief, war zerbombt. Bei Fliegerangriffen, “manchmal dreimal die Nacht", mußten die Häftlinge über ein Treppenhaus ohne Balustrade in den Keller rennen. “Viele stürzten sich zu Tode."

Seine Lebens- und Leidensgeschichte wurde 1996 von der Shoah-Foundation in Los Angeles, eine von Steven Spielberg initiierte Stiftung, auf Video aufgezeichnet. Eine Kopie soll nun die Frankfurter “Initiative gegen das Vergessen" des Vereins Leben und Arbeiten im Gallus und Griesheim (LAGG) erhalten, die die Gedenkstätte förderte. Emmert bekam eine Dokumentation zum Grab für das AMVC-Archiv überreicht. Adressen wurden ausgetauscht. “Bisher wußten wir von zehn noch lebenden Zwangsarbeitern, jetzt sind es elf”, so ein LAGG-Sprecher. tin

Frankfurter Rundschau vom 24.08.1998