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Rede von Ernst Kaiser anlässlich der Platzbenennung am 14.03.1998:

Herr Ortsvorsteher, meine Damen und Herren,

Der ehemalige Auschwitz-Häftling Fred Wander, schreibt in seinen Erinnerungen: »Die Bilder der entsetzten Augen jener, die wir auf unserem Weg zurückgelassen haben; drücken schwer auf der Seele. Der stumme Schrei der Empörung in uns, in den Tagen nach der Befreiung, als wir die Gleichgültigkeit der Welt entdeckten — ist das nicht alles verblaßt an der Vergeblichkeit, Genugtuung zu bekommen, Gerechtigkeit herzustellen oder wenigstens Bemühungen zu sehen, die Würde der Ermordeten wiederherzustellen?«

Adlerwerke damals

Adam Golub
*12.6.1925

Georgi Lebedenko
*6.10.1923

Beide wurden als Häftlinge des an die Adlerwerke angeschlossenen KZ Katzbach am 14.3.1945 bei einem Fluchtversuch in der Lahn- bzw. Kriegkstraße erschossen.

Foto: Sabine Kirsch

Heute wird dieser Platz benannt nach Georgi Lebedenko und Adam Golub. Es ist dies eine würdevolle Erinnerung des Ortsbeirates 1 an diese beiden KZ-Häftlinge, die hier im Gallusviertel vor 53 Jahren am 14. März 1945 von einem SS-Mann auf offener Straße ermordet wurden. Georgi Lebedenko und Adam Golub waren zwei von insgesamt 528 Häftlingen, die im Außenlager des KZ Natzweiler in den Adlerwerken eines gewaltsamen Todes starben und heute auf dem Frankfurter Hauptfriedhof begraben sind. Die Fakten dieses KZ-Außenlagers in Stichworten:

Über 1.600 KZ-Häftlinge, hauptsächlich Polen aus dem Warschauer Aufstand, daneben größere Häftlingsgruppen von deutschen, russischen und jüdischen Häftlingen, wurden zwischen August 1944 und März 1945 im Werk I der Adlerwerke von einer SS-Bewachungsmannschaft gefangen gehalten. Sie wurden aus den Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau, Natzweiler, Neuengamme und Auschwitz in die Adlerwerke überstellt, um in der Endphase des »Totalen Krieges« zur Produktion von Schützenpanzerfahrgestellen und für Aufräumungsarbeiten nach Bombenangriffen eingesetzt zu werden. Von Zwangsarbeit zu reden, ist dabei mehr als eine Untertreibung. Die Häftlinge, so resümiert der Historiker Hans Mommsen mit Blick auf das KZ-Außenlager der Adlerwerke, pflegten nicht in die Bilanz ihrer Nutznießer einzugehen. Sie waren von der SS zur »Vernichtung durch Arbeit« freigegeben. In den Adlerwerken wurde diese Option durch eine systematische Verelendung der Häftlinge kompromißlos umgesetzt. 528 Häftlinge starben qualvoll an Hunger, Kälte, unvorstellbaren Arbeitsbedingungen, Hinrichtungen, Morden und infolge ihres unzureichenden Schutzes bei einem Luftangriff am 8. Januar 1945. 245 Häftlinge wurden als Arbeitsunfähige selektiert und in das KZ Dachau und das Sterbelager Vaihingen abtransportiert. Hunderte starben bei der Evakuierung des Lagers in die KZ Bergen-Belsen und Buchenwald. Aufgrund dieser Todesziffern spricht die einschlägige Forschung von den Adlerwerken als einem der schlimmsten Werks-Konzentrationslager in Deutschland.

Hinter diesen Zahlen verbergen sich Menschen, die von ihren Peinigern und Mördern systematisch depersonalisiert wurden. Bis heute wissen wohl die meisten betroffenen Familien nichts davon, daß hier in Frankfurt ihre Väter, Brüder oder Söhne begraben liegen. Übriggeblieben sind Arbeitslisten, Abrechnungslisten, Transportlisten, schließlich Gräberlisten in Archiven und bei Behörden. Daraus lassen sich Häftlingsnummern und Namen sowie Geburts- und Sterbedaten entnehmen, die heute oftmals die einzigen Anhaltspunkte dafür sind, daß diese Menschen überhaupt existiert haben. Und selbst diese mageren Daten wurden von besorgten Stadtbediensteten und Bürokraten sowie einer Justiz mit begrenztem Aufklärungsinteresse lange Zeit und zum Teil bis in diese Tage unter Verschluß gehalten — der frühere Friedhofsleiter ging sogar offensichtlich so weit, die Leichenschauscheine ungestraft zu vernichten. Es ist deshalb nicht leicht, diese Ziffern in Menschen zurückzuverwandeln. Die dünnen biographischen Erkenntnisse über Georgi Lebedenko und Adam Golub zeugen davon.

Wer waren die beiden Ermordeten?

Georgi Lebedenko wurde am 6.10.1923 in Kiew geboren. Die Staatsangehörigkeit des 21jährigen war polnisch. Georgi Lebedenko war gelernter Dreher. Auf welchem Weg und wann er in das KZ-Außenlager der Adlerwerke gelangte, wissen wir bis heute nicht. Als sein letzter Wohnort war auf dem — heute verschwundenen — Leichenschauschein angegeben: Frankfurt / Main, Arbeitskommando Katzbach, Kleyerstraße 17, Adlerwerke.

In Auschwitz überlebt und in Frankfurt ermordet, dies war das Schicksal des russischen KZ-Häftlings Adam Golub. Adam Golub wurde am 12.6.1925 in Dniepropetrowsk geboren. Mit 19 Jahren wurde er Anfang Januar 1945 (6.1.1945) im oberschlesischen Kohlenrevier Rybnik verhaftet. Der Schriftsteller Hans Frick beschreibt ihn als einen kleinwüchsigen jungen Menschen mit ganz schmalen Schultern. In seinem Leichenschauschein ist als Beruf Bergmann vermerkt. Dies läßt darauf schließen, daß Adam Golub zunächst im KZ-Außenlager Charlottengrube inhaftiert wurde, einem Außenlager des KZ Auschwitz zum Abbau von Steinkohle in Rybnik. Bei der Evakuierung des KZ Auschwitz vor der heranrückenden Front wurde er am 22.1.1945 in das KZ Buchenwald überstellt. Dort wurden als Ersatz für verstorbene Häftlinge in den Adlerwerken am 30.1.1945 insgesamt 226 Häftlinge in den Zug-Nr. 5314 mit fünf Gefangenen-Wagen verladen, hauptsächlich ehemalige Gefangene des Außenlagers Jawischowitz des KZ Auschwitz. Um 13:20 Uhr verließ der Zug den Bahnhof Buchenwald. Zielort: Frankfurt am Main. Dort traf er am 1.2.1945 bei den Adlerwerken ein. Unter den Häftlingen befand sich laut Transportliste auch der Häftling mit der Nummer 98.603: Adam Golub.

Georgi Lebedenko und Adam Golub gehörten zu jenen etwa 20 Häftlingen, die einen Fluchtversuch aus dem KZ-Außenlager Adlerwerke unternommen haben. Zum Zeitpunkt des 14. März 1945 befanden sich noch etwa 875 Häftlinge im Lager. Davon hunderte von Sterbenden und Muselmanen (vor Schwäche Schwankende), ein Bild des Grauens. Deren Chancen, das Kriegsende zu erleben, lagen, wie wir heute wissen, bei vielleicht 10-20%. Die Produktion war bereits eingestellt und die Adlerwerke drängten auf den rechtzeitigen Abtransport der Häftlinge vor dem Eintreffen der Alliierten. Die SS bereitete einen ersten Transport per Bahn nach Bergen-Belsen vor, der zwei Tage später am 16. März 1945 auch abging. Am 24. März 1945 wurden die restlichen Häftlinge zu Fuß nach Buchenwald getrieben.

Diesen beiden Todestransporten wollten die Flüchtlinge zuvorkommen, ein Akt der nackten Verzweiflung, denn auf Fluchtversuch aus einem Konzentrationslager stand — ein ungeschriebenes Gesetz — der Tod. Die Eintragung "auf der Flucht erschossen" auf den beiden Leichenschauscheinen, abgezeichnet vom Werksarzt der Adlerwerke, entsprach jedoch nicht den Tatsachen. Es handelte sich um nichts anderes als um eine Exekution, um eine Hinrichtung von Georgi Lebedenko und Adam Golub, an deren Ergreifung sich offenbar die halbe Nachbarschaft beteiligt hatte. Ein Nachtwächter schilderte der Kriminalpolizei 1946, was er erlebte: "An einem Morgen um die Mitte des Monats März 1945 hörte ich plötzlich auf der Straße das Getrappel von Kommißstiefeln und lautes Rufen wie: 'Hierher in die Trümmer!' und ähnliches. Ich habe mich dann angezogen und bin auf die Straße. Dort sah ich den SS-Mann Martin [gemeint ist der Lagerkoch Martin Weiß], den ich unter diesem Namen kannte und noch verschiedene andere SS-Wachleute, die eifrig nach einem flüchtigen Häftling suchten. Inzwischen hörte ich dann, daß in der Kriegkstraße ein erschossener KZ-Häftling liegen sollte. Ich ging dort hin und sah vor dem Hause der Papierhandlung L. einen toten Häftling auf dem Bauch liegen. Er hatte, wie ich festgestellt habe, einen Genickschuß erhalten." Eine andere Zeugin beobachtete ebenfalls die Jagd auf die Entflohenen: "Ich hörte auf der Straße lautes Schreien und Rufen, aus dem zu entnehmen war, daß jemand entflohen sei. Kurz danach hörte ich auch einen Schuß fallen und ist einer der Entwichenen vor dem Geschäft des Händlers H. etwa, erschossen worden. Wie ich weiter vernehmen konnte, suchte man einen zweiten Menschen noch. Die Stimme auf der Straße war, wie ich mich genau erinnern kann, der SS-Mann Weiß, den ich vom Luftschutzkeller der Adlerwerke her kannte. Eine Mitbewohnerin meines Hauses [...] beteiligte sich mit dem Weiß zusammen an der Suchaktion nach dem entwichenen Häftling, indem sie mit einer Stallaterne sich auf die Straße bewegte und stets die Worte rief: 'Wo sind die, wo sind die?'"

Am Mittwoch, den 14. März 1945 um 6:00 Uhr morgens war Georgi Lebedenko vor dem Haus der Kriegkstraße 27 erschossen worden. Nachdem der zweite Entflohene Adam Golub im Keller des Hauses Lahnstraße 32 entdeckt worden war, informierten die Nachbarn die SS und sicherten den Eingang zum Keller. Immer wieder waren die Häftlinge der Zivilbevölkerung als Kriminelle, als »Warschauer Banditen« präsentiert worden, aber mußte deren körperlicher Zustand und deren brutale Behandlung nicht eigentlich Mitleid ausgelöst haben? Beim Eintreffen der SS hatte sich auf der Straße eine Menschenmenge von etwa 30 Personen angesammelt. Eine Augenzeugin schilderte, was dann passierte: "Weiß begab sich in den Keller, er hatte schon einen Revolver oder eine Pistole in den Händen gehalten. Der Häftling kam aber von allein die Treppe herauf und sagte zu Weiß, 'Kamerad nicht schießen', worauf Weiß seine Pistole wieder einsteckte und nach einem herumliegenden Knüppel griff. Auf der Straße dann wollte er den Häftling schlagen, worauf ich vom Fenster meiner im ersten Stock gelegenen Wohnung dem Weiß zurief, er solle den Häftling nicht schlagen. Weiß ließ tatsächlich den Knüppel fallen und auf der Straße erschoß er den Betreffenden von hinten mit einem Kopfschuß." Alle Zeugen stimmten darin überein, daß Weiß den keinerlei Gegenwehr leistenden 19jährigen aus kurzer Entfernung mit einem Genickschuß tötete; Adam Golub verstarb am 14. März 1945 um 18:30, amtliche Todesursache: Kopfschuß/Hirnblutung. Nach einiger Zeit, so ein Zeuge, "kam dann (der SS-Lagerführer) Franz mit einigen Häftlingen, die eine Tragbahre mit sich führten, und brachten, nachdem Franz den Toten mit dem Fuß umgedreht hatte, diesen auf der Tragbahre weg. Im gleichen Augenblick sind etwa 600 Gefangene, vom Teves [einer Fabrik in der Nachbarschaft] herkommend, vorbeimarschiert, die alle die Leiche liegen sahen. Die Straße stand voller Menschen."

Die Leichen der Geflohenen wurden den Lagerinsassen zur Abschreckung präsentiert. Ein Häftling: "Wir mußten in der Unterkunft antreten. Dann wurden die beiden Häftlinge, die tot auf einer Bahre lagen, an uns vorbeigetragen. Die Häftlinge waren erschossen worden. Außerdem hat man sie so geschlagen, daß man sie kaum erkennen konnte."

Wir wissen heute mehr über die Täter als über die Opfer: Der Lagerkoch, SS-Unterscharführer und Volksdeutsche Martin Weiß war unmittelbar nach dem Krieg in seinen Heimatort nach Siebenbürgen in Rumänien zurückgekehrt. Dort verdingte er sich unbescholten als Flurschütz auf dem Bürgermeisteramt — gedeckt und beschützt bis an sein Lebensende von der deutschen Justiz! Durch ungeschickte Recherchen der Kriminalpolizei bei Verwandten in Deutschland war Weiß seit den 60er Jahren gewarnt, jemals wieder nach Deutschland einzureisen. Ein Strafverfolgungsübernahmeersuchen an die rumänischen Strafverfolgungsbehörden unterließ man, weil zu befürchten stand, daß die rumänischen Behörden die Todesstrafe verhängen könnten, was gegen das Grundgesetz verstoßen hätte. So begnügte man sich mit einem jährlich zu erneuernden und auf das Inland beschränkten Haftbefehl. Mit den schludrigen Personalangaben in diesem Haftbefehl, so vermerkte der zuständige Staatsanwalt beim Landgericht Frankfurt 1984, »dürfte allerdings kaum jemand festzunehmen sein, selbst wenn der Schuldige auftauchen sollte«. Weiß starb 1995 79jährig als Pflegefall in einer rumänischen Nervenklinik.

Durch das Versagen der Justiz waren die Zeugen des Mordes buchstäblich gezwungen, Monologe zu führen. Der selbst von Verfolgung bedrohte Halbjude Hans Frick beschreibt den Mord an Adam Golub aus der Perspektive eines damals 14jährigen, der vom Alter her gesehen näher an den beiden jungen Heranwachsenden dran war als alle anderen Zeugen; der ihre Gottverlassenheit körperlich erspürte. Seine subjektive Beschreibung des Tathergangs ist deshalb vor allem ein atmosphärisches Dokument. Es ist voller beißendem Zynismus gegenüber dem ungesühnten Mord und gegenüber den gleichgültigen bis kollaborierenden Zuschauern. Der Mörder Weiß wird im Text Schwarz genannt, ein zweiter SS-Mann Czernick.

Monolog eines Zeugen

»So ein ziemlich junger Mensch mit ganz schmalen Schultern war das. Ganz schön hochgenommen haben die ihn, kann ich Ihnen sagen; Menschenskind, hatten die einen Spaß. Zuerst einmal traten sie ihn sich zu, immer von einer Straßenseite zur anderen. Obwohl Czernick eigentlich, wie man wußte, gegen diese Art der Öffentlichkeitsarbeit war. Das, mein Lieber, ging eine ganze Weile so weiter — immer hin und her, immer feste in den Arsch des Warschauers. Genau genommen gab`s da nicht viel zu lachen, aber viele haben zugesehn und gelacht.

Auch ein wenig geschlagen haben sie ihn, die Herren Schwarz und Czernick, aber eher so, daß man geneigt war anzunehmen, sie seien noch unschlüssig, was weiter geschehen soll. So zögernd kamen die Schläge. Jedenfalls hatte man den Eindruck, daß die Schläge nur zögernd kamen. Er hatte trotzdem ein Gesicht wie ein Lampion, alles voll Blut. Damals, mein Lieber, deutete ich dieses Zögern wahrscheinlich falsch, etwa als Ausdruck einer beginnenden Lustlosigkeit der Herren Schwarz und Czernick. Schließlich war man nicht gerade mit den Gepflogenheiten von ... na ja, von Mördern vertraut. Wenn ich Ihnen sage, das hätten Sie gesehn haben müssen.

Schwarz umkreiste sein Opfer (...) — entblößte manchmal die Zähne wie ein Nagetier, eine alte Gewohnheit von ihm, und machte lauter merkwürdige Bewegungen. Zum Lachen, mein Lieber, hat´s aber scheinbar nicht gereicht. Den Blick, den dieser Jude hatte, das war vielleicht ein Blick. Sowas von einem Blick haben Sie bestimmt noch nicht gesehn. Höchstens wenn Sie damals auch dabei waren. Aber das haben Sie ja bereits verneint, wenn ich Sie recht verstanden habe. Kurz und gut: Dann hob Schwarz den Arm, ließ ihn wieder sinken, wobei sein Gesicht einen beinahe grüblerischen Ausdruck hatte, hob ihn erneut, schlug zu, mit der Pistole, versteht sich, natürlich mitten ins Gesicht des Warschauers, wenn man in dieser Phase überhaupt noch von einem Gesicht sprechen konnte, und trat zurück.

Wenn ich Ihnen sage: ein kleingewachsener Jude, mit einer schwammigen Einbuchtung da, wo gewöhnlich ... ich meine, wo gewöhnliche Menschen eben Nasen haben. Und die Straße war auch nicht gerade ungewöhnlich, wenn Sie so wollen, es war eine Straße, wie man sie überall in Deutschland und anderswo findet. Der war ja so hirnverbrannt dumm, dieser Galizier. Ich an seiner Stelle, ich schwör`s Ihnen, hätte die Geschichte ein wenig beschleunigt, ich hätte ganz einfach sowas ähnliches wie einen Fluchtversuch unternommen. Dann wäre er gleich umgelegt worden, und die Sache wäre ausgestanden gewesen.

Aber nein, das alte Lied: Märtyrer spielen bis zuletzt ... Als ob sich damals einer für so einen Unsinn interessiert hätte. Nun, Czernick, und das muß wegen der Objektivität hinzugefügt werden, hatte wiederholt den Versuch gemacht, Schwarz von seinem Vorhaben, der öffentlichen Umbringung des Häftlings, abzubringen. Aber da kannte er den alten Schwarz schlecht. Überhaupt ist sowas logischerweise im fortgeschrittenen Stadium einer solchen Handlung regelrecht sinnlos. Um das zu wissen, muß man bei Gott kein diplomierter Psychologe sein. Ohne Umschweife, Schwarz stopfte also den Pistolenlauf in den Hals des Warschauers und schoß; und daraufhin zersprang sein Hals beinahe wie Porzellan. Der Körper machte, wie man so sagt, eine artige Verbeugung und sackte zusammen. Lustig hat das ausgesehn, etwa wie eine losgelassene Marionette, möchte man in solchen Augenblicken meinen.

Sie werden verstehen, daß sich die Fenster nun wieder schlossen; der Rausch war gewissermaßen verflogen. Die Gardinen wurden zugezogen.«

Aufgezeichnet von Hans Frick, Frankfurter Rundschau Nr. 30 vom 5.2.1966

Was sich am 14.3.1945 um diesen Platz herum abspielte, war eine Eskalation der alltäglichen Gewalt des KZ-Außenlagers in aller Öffentlichkeit. Dabei war die Brutalität in der Nachbarschaft nie ein Geheimnis gewesen. Im Gallusviertel berührten sich KZ und Stadtteil in verschiedenen Bereichen:

1. Die SS-Männer pflegten geschäftsmäßige Beziehungen zu verschiedenen Läden in der näheren Umgebung, bekamen Brot vom Bäcker Schwab geliefert, kauften beim Lebensmittelhändler H. oder ließen sich Wein vom Konsumverein liefern. Ihre Einkäufe wurden teilweise von den Häftlingen ins Werk getragen. Neben diesen formellen Beziehungen entwickelten sich informelle Freizeit-Kontakte zu der SS. Zeitzeugen berichteten von Damenbekanntschaften, verschiedentlich auch von Festen in den Räumen der Adlerwerke. Sie trafen sich mit Anwohnern, man duzte sich, und zumindest der Lagerkoch Weiß brüstete sich vor Publikum in angetrunkenem Zustand mit seinen Brutalitäten. Trotzdem scheinen die SS-Leute weitgehend als normale Bürger akzeptiert worden zu sein. Bekannt ist uns allerdings auch ein Fall, in dem moralische Empörung existierte, jedoch nicht zum Abbruch der Beziehungen führte. Es handelte sich um den Bäcker Herrn S., der den Kontakt hielt, um Belastungsmaterial gegen die SS zu sammeln und um den Häftlingen unter anderem durch zugesteckte Lebensmittel helfen zu können.

2. Die SS-Praktiken gegenüber den Häftlingen konnten nicht nur die Angehörigen der Adlerwerke, sondern viele Anwohner miterleben, nicht wenige fanden mehr oder weniger öffentlich statt, spielten sich praktisch vor ihrer Haustür ab. Zum Beispiel: die Ankunft der verschiedenen Häftlingstransporte, oder wenn die Häftlinge zum Baden in die Ackermannschule getrieben wurden, wenn sie zu Aufräumarbeiten im Stadtteil und für die Reichsbahn eingesetzt wurden, wenn Anwohner die Bunker der Adlerwerke aufsuchten, als beim Luftangriff vom 8. Januar 1945 zahlreiche Häftlinge verschüttet wurden. Wahrscheinlich konnte man auch beobachten, wie die Häftlinge auf dem zerstörten Dach der Adlerwerke zum Appell antreten mußten. Nicht auszuschließen ist, daß auch die Hinrichtung zweier Häftlinge beobachtet werden konnte. Hinzuzufügen wäre, daß auch der Abtransport der zahlreichen Leichen kein Geheimnis war.

3. Bei ihrer Flucht mußten die KZ-Häftlinge erkennen, daß die Grenze des Lagers nicht der Stacheldraht um ihre Unterkunft war, sondern daß genügend Deutsche in die Bewachung verstrickt waren und damit die Flucht zusätzlich erschwerten. Es gab eine vom Ortsgruppenleiter Heinrich Arras gebildete Stadtwacht, die entflohene Zwangsarbeiter einfangen sollte und explizit aufgefordert war, fliehende Häftlinge aus den Adlerwerken sofort zu erschießen. Offensichtlich diente hier die SS als Verhaltensmodell.

Die Grenzen des SS-Staates waren verschmolzen mit den Werksgrenzen dieses Frankfurter Traditionsbetriebs. Aber sie endeten nicht am Lagertor und Stacheldrahtverhau. Dieser Platz gegenüber dem ehemaligen Haupteingang der Adlerwerke war eine Schnittstelle zwischen KZ-Außenlager und Stadtteil, zwischen KZ-System und Zivilbevölkerung, zwischen durch Bombenhagel bedrohtem Leben und sicherem Tod. Von hier aus benötigen wir heute eine Denkschneise, um das Wesen und den Charakter dieses Lagers freizulegen. Und um die lange betriebene Verbannung der Verbrechen aus unserem Gesichtskreis zu überwinden.

Um zu zeigen, daß die Hunderten Tote Einzelne gewesen sind, dafür ist die Platzbenennung heute so wichtig. Nur auf diese Weise kann die Erinnerung auch die Herzen der Menschen erreichen. Nur so können wir am historischen Beispiel studieren, was die Ursachen der Indifferenz gegenüber der Gewalt sind. Vielleicht könnten wir sogar aus der Gleichgültigkeit der Zuschauer damals, trotz der völlig unvergleichbaren Lebensumstände beim Überlebenskampf inmitten permanenter Luftangriffe, — für heute — lernen. Der Stadtteil hat heute ein sichtbares Zeichen gesetzt, daß er sich dem dunkelsten Kapitel seiner Geschichte stellt. Die Erinnerung an Georgi Lebedenko und Adam Golub verbindet diesen Prozeß damit, sich der Lebensgeschichte der ermordeten KZ-Häftlinge anzunehmen. Es bleibt zu hoffen, daß dieser Prozeß an den Schulen und in den Institutionen dieser Stadt fortgesetzt wird.