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Bevor er ins KZ Adlerwerke nach Frankfurt kam, war Heinz Meyer bereits drei Jahre lang KZ-Häftling im Kommando Auschwitz-Jawischowitz. Im Vergleich zu Auschwitz-Jawischowitz »warst du richtig ´ne Null in Frankfurt. Du warst überhaupt nichts. Du warst ein Werkzeug. Aus!« erklärte er. »Man hat uns immer daran erinnert, dass wir dort überhaupt nichts zu sagen haben, dass sie mit uns machen können, was sie wollen. Wir waren keine Menschen, wir waren nur Roboter für die schlimmsten Arbeiten. Wir hatten nichts zu sagen, nichts. Nichts! Wir mussten machen, was sie sagten und sonst gar nichts. Wir wussten nicht, was uns erwartete. Jeden Tag!« So schildert Jerzy Kamasinski die permanente Demonstration absoluter Macht. Und Wladyslaw Jarocki: »Ein Gefangener hatte kein Recht etwas zu wissen. Also stellte ich keine Fragen. Uns wurde gesagt, wir sollen nicht denken. Wir kannten keine Namen. Man hat die Nummern geschrien, und man musste auf diese Nummer raustreten. Wenn nicht, dann gab es Prügel.« (drei ehemalige Häftlinge in Gesprächen mit den Autoren 1990 und 1993)
Der Lager erfahrene ehemalige KZ-Häftling Heinz Aber schildert den alltäglichen Terror in seinem Bericht bei der Frankfurter Kriminalpolizei 1946: »Als Wachleute waren SS-Leute eingesetzt, die sich bis auf einige Ausnahmen schweinemäßig den Häftlingen gegenüber verhalten haben. Ich habe in keinem Lager eine derart schlechte Behandlung durch SS-Männer wie in diesem Lager erfahren. Das wurde dadurch begünstigt, dass die SS-Leute mit uns in dem gleichen Gebäude untergebracht waren und somit jeder seinen sadistischen Gefühlen freien Lauf lassen konnte, sofern er Lust dazu verspürte [....] Bei jeder sich bietenden Gelegenheit, z.B. beim Antreten oder bei Fliegeralarm, musste alles im Laufschritt vonstatten gehen. Konnte ein Häftling nicht mehr schnell genug laufen, dann wurde er mit Kolbenstößen und Peitschenhieben traktiert. Die Peitschen hatten sich die SS-Leute aus Kabeln hergestellt.«
Geprügelt wurde ohne Ankündigung – wahllos und unberechenbar. Die SS machte klar, dass sie mit den KZ-Häftlingen machen konnte, was sie wollte. Daneben bot die Strafordnung eine Fülle von Vorwänden, »Vergehen« mit Schlägen, Essensentzug, »Bunker« und Stehappellen zu ahnden. Strafanlässe waren nach Berichten der Überlebenden z.B. ein zerbrochener Napf, verschmutzte Kleidung (besonders zynisch unter den hygienischen Verhältnissen des Lagers) oder der Versuch sich zu wärmen. Max Loock berichtet von den öffentlichen Prügelstrafen; von 25, 30 und noch mehr erniedrigenden und entwürdigenden Schlägen auf das nackte Gesäß: »Diese Strafe wurde vor unser aller Augen vollzogen. Der Verurteilte wurde auf eine niedrige Bank gelegt, an Kopf und Beinen gehalten, so dass er sich nicht rühren konnte. Als Henker war der Küchenchef Weiß ... tätig ... . Geschlagen wurde mit einem Meter langen, 5 cm dicken Vollgummi.« Berichtet wird auch, dass Häftlinge gezwungen wurden, ihre Leidensgenossen zu schlagen.
Fluchtversuche endeten meist mit der sofortigen Ermordung der Entflohenen, und für alle Häftlinge wurden Kollektivstrafen, z.B. die Nacht hindurch stehen – mit erhobenen Händen und ohne Essen, verhängt. Oft genügte eine solche Tortur oder schon wenige Schläge, um bei den ausgemergelten und entkräfteten Gefangenen den Tod herbeizuführen. Es gibt Hinweise auf zahlreiche Körperverletzungen mit Todesfolge und acht dokumentierte Erhängungen und Erschießungen. Doch sind diese zweifellos nur die Spitze des Eisberges. Darüber hinaus gibt es ungeklärte Berichte über weitere Erhängungen und Erschießungen, über Häftlinge, die gezwungen wurden, aus dem vierten Stock zu springen und über eine »Enthauptung«.
In den Häftlingsberichten werden häufig der stellvertretende Kommandant, Emil Lendzian, SS-Lagerkoch Martin Weiß und der im Februar 1945 von der SS zum Lagerältesten ernannte Häftling Eduard Behrendt, Spitzname »Bobby« erwähnt. Lendzian ist für besondere Brutalität bekannt, »weil er Leute totgeschlagen hat, hauptsächlich Kranke, die sich zum Arzt meldeten« (so der Häftling Kazimierz Doszla bei der Kripo Frankfurt 1946). Er wurde von den Häftlingen und der SS »Iwan der Schreckliche« und »Tiger von Eschnapur« genannt. Zum Lagerkoch Weiß berichtet der Badeverwalter Wilhelm T. im städtischen Bad in der Ackermannschule im Gallusviertel (Aussage vor der Kripo, 1946): » Es war dies ein etwa 30 bis 35jähriger Mann von mittlerer ‚vollgefressener‘ Figur. Er hatte einen bestialischen Blick. Ich kann mich weiter genau erinnern, dass dieser SS-Mann die Häftlinge auf das Schändlichste misshandelte, sie grundlos schlug, bis ihnen das Blut von den betreffenden Körperteilen herunterlief, und dies, als die Leute nackt im Bad standen. Zu diesem Zweck hatte er sich einen Knüppel, der in meinen Räumlichkeiten stand, angeeignet, mit dem er die Häftlinge traktierte ...«. Und der Heizer der Schule, Czeslaw C., bestätigt vor der Kripo, dass Weiß die Häftlinge am häufigsten misshandelte. »Die anderen SS-Männer beteiligten sich an den Misshandlungen. Am meisten wurden die Leute geschlagen, wenn sie nackt waren. Sie verwendeten zum Schlagen der Leute einen Gummiknüppel, der innen einen Draht hatte." Über den Kriminellen Eduard Behrendt, Lagerältester ab Februar 1945, sagten die ehemaligen Häftlinge Ryszard Kojer, Ryszard Olek und Zygmunt Kaczmarski, »dass er die Leute bei der Brust genommen und mit dem Hinterkopf gegen die Wand geschlagen« habe und, »dass er die sich kaum auf den Beinen haltenden Häftlinge von den Pritschen warf und sie zwang, zum Spiel eines Akkordeons zu tanzen, war ein Beweis der Anomalität dieses Menschen – dass er aber die Gesichter der Toten sanft tätschelte und sie anlachte, zeigte, dass er komplett pervers war.«
Die alltägliche exzessive Gewalt, verbunden mit Unterernährung, Krankheiten und Kräfte zehrender Arbeit beschleunigten die Erfüllung der ideologischen Vorgabe »Vernichtung durch Arbeit«. Der Vernichtungsprozess ging dem Lagerkommandanten Erich Franz aber nicht schnell genug. Das belegen auch seine Begrüßungsworte an die im Februar 1945 neu eingetroffenen Häftlinge: »Was soll ich mit solch einem Gelumpe, davon habe ich genug und keiner will verrecken!« Franz, dem von Häftlingen und Werksangehörigen ein hohes Maß an Arroganz und Zynismus bescheinigt wird, ließ sich persönlich nicht zu Misshandlungen herab, was aber zu falschen Schlüssen hinsichtlich seiner Gesamtverantwortung führte. Als Lagerkommandant deckte oder duldete er zumindest eine Behandlung der Häftlinge, die ihre Überlebenschancen radikal minderte. Nach 1945 bestritt er, irgendeinen Namen seiner Untergebenen zu kennen und deckte weiterhin ausnahmslos alle Verbrechen. »Von Misshandlungen durch die SS-Bewachungsmannschaft, die heute als unmenschlich bezeichnet werden könnten, habe ich nie etwas gehört und auch nichts gesehen.« (aus seiner Vernehmung 1964)
Leichenschauschein des hingerichteten KZ-Häftlings Wincenty Bochenski
aus: Kaiser/Knorn Wir lebten und schliefen zwischen den Toten
Auch mit den Erhängungen des Landarbeiters Wincenty Bochenski und des Malers Wladyslaw Sumara wegen »Sabotage« hatte Lagerkommandant Franz angeblich nichts zu tun. Er »war wohl bei dieser Hinrichtung zugegen«, hatte aber »mit dieser Angelegenheit nicht im geringsten zu tun« (aus seiner Vernehmung 1964). Tatsächlich war er für Antrag und Vollzug der Exekution verantwortlich. Der Hinrichtung vorausgegangen war die Meldung des Meisters der Pleuelstangenfabrikation. Er hatte einen Produktionsausfall zu rechtfertigen und schrieb deshalb: »Der KZ-Häftling Nr. ... hat heute Nacht die Bohrvorrichtung total verbohrt. Er war von unserer Seite aus (Einrichter) gut angelernt.« Der Bericht ging über den Betriebsleiter an die Werksleitung. Man entschloss sich zur Statuierung eines Exempels in der Motorenabteilung. Die Exekutionen wurden beantragt und durch das RSHA (Reichssicherheitshauptamt) für den 24.1.1945 angeordnet. Der Häftling Peter Keimling schildert 1961 beim Hessischen Landeskriminalamt die Hinrichtung: »Aufgehängt wurden die beiden Häftlinge in der Häftlingsunterkunft. Durch Bombenangriffe war ein Teil des Daches der Unterkunft zerstört, einige Balken waren jedoch erhalten geblieben. An einem solchen Balken wurden die beiden aufgehängt. Teilgenommen hat ein großer Teil der Häftlinge. Vor dem Aufhängen erklärte uns der Lagerführer, die beiden Häftlinge würden aufgehängt werden, weil sie Sabotage betrieben hätten, und so würde es jedem ergehen, der Sabotage betreibt. ... Zur Abschreckung blieben die beiden eine Zeit lang hängen, ehe man sie abnahm und fortschaffte.« Jerzy Kamasinski: » Der ‚Tiger‘ (gemeint ist Lendzian) bereitete die Hinrichtung vor. Er hat den beiden Jungs ganz kleine, niedrige Schemel untergestellt. Als man uns zusammengetrieben hat, stand die SS mit Karabinern um uns herum, weil sie Angst hatte, dass wir uns zur Verteidigung der beiden zusammentun könnten. Sie hatten die Hände hinten zusammengebunden. Der ‚Tiger‘ kam von hinten. Die beiden versuchten, nach dem Umstürzen des Hockers mit den Fußspitzen den Boden zu berühren. Da hat er sie dann nach hinten gezogen und fünf Minuten gehalten um sie zu erdrosseln. Das ist so, als würde ich es jetzt sehen. Ein Erlebnis, das man niemals vergisst.« Der erforderliche Strick für die Erhängung wurde bei der Einkaufsabteilung der Adlerwerke bestellt und von dieser geliefert. Der Betriebsarzt, nicht ein SS-Arzt, stellte die Totenbescheinigung aus.
Nach dem Krieg war die Hinrichtung nicht zu leugnen; doch an die Details konnte sich niemand mehr erinnern. Auch die Sabotage-Meldung wollte keiner auf dem Dienstweg weitergeleitet haben. Generaldirektor Hagemeier vor dem Oberstaatsanwalt beim Landgericht Frankfurt 1947: »Später habe ich einmal gehört, dass davon gesprochen worden ist, dass Hinrichtungen stattgefunden haben sollen. Näheres ist mir nicht bekannt.«
aus: Kaiser, Ernst und Knorn, Michael: Wir lebten und schliefen zwischen den Toten, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Campus-Verlag, S. 206-215