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SS-Scharführer Martin Weiss

Der 28 Jahre alte Lagerkoch war einer von mehreren Volksdeutschen aus Rumänien in der SS-Bewachungsmannschaft, die freiwillig zur SS gekommen waren. Er war von Beruf Metzger und vor seiner Tätigkeit bei den Adlerwerken an Erschießungen von Juden auf dem Balkan beteiligt.

Grundsätzlich war die Verwaltung der Adlerwerke zuständig für die Beschaffung und Abrechnung der Lebensmittel. Weiß beschaffte aber gelegentlich auch Lebensmittel in den umliegenden Geschäften und war deshalb ausserhalb des Lagers im Gallusviertel gut bekannt. Was mit den zugeteilten Lebensmitteln geschah, lag im Belieben der SS. Es kann davon ausgegangen werden, dass Lebensmittel unterschlagen, verschachert oder in Alkohol eingetauscht wurden. Viele Zeugenaussagen belegen, dass es sich die SS im Angesicht der verhungernden Häftlinge gut gehen ließ. Dazu der Häftling Kazimierz Doszla in seiner Aussage 1946: „Weiß ging mit einem Gummiknüppel im Lager herum, schlug Leute ohne besonderen Grund, war immer betrunken. Weiß unterschlug Lebensmittel, die er im Magazin empfing, wobei Häftlinge Zeuge waren. Auf dem Weg zum Lager wurden die Lebensmittel an Geschäfte gegen Schnaps eingetauscht.“ Der Häftling Josef Jozwiak ergänzt dazu in seinem Gespräch mit den Autoren 1985: „Er war ein dreckiger, dreckiger Kerl. Da sind Kartoffeln angekommen – ich glaube für die ganze Mannschaft fünf Säcke – und er hat einen erwischt, der sich zwei Kartoffeln eingesteckt hat. Weiß hat ihm die Kartoffeln in den Mund gestopft, ihn am Hals gepackt und hat ihm die Kartoffel mit der Faust im Mund zerkleinert – so hat er ihn gedroschen. Das war der Schlimmste!“ Es gibt viele Hinweise auf Körperverletzungen mit Todesfolge, und in den Häftlingsberichten darüber wird Weiß oft erwähnt. Auch der im Gallus lebende Schriftsteller Hans Frick erlebte Weiß‘ Auftritte: „Weiß behauptete, Häftlinge mit einem einzigen Schlag seiner gewaltigen Faust töten zu können. Ich saß ihm gegenüber, während er die angedeuteten Schläge demonstrierte. Wer einmal Zeuge seiner Demonstrationen war, begriff schnell, dass Weiß mit seiner Behauptung nicht übertrieb. Der Euphorisierte trank in immer kürzeren Abständen. Dabei stieß er manchmal ein brüllendes Gelächter aus. Er berichtete von Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung zahlreicher Balkandörfer und -städte, griff zur Pistole, schwang sie und zeigte uns, wie er kniende Juden erschossen hatte.“ Weiß war es auch, darin stimmen alle Zeugenaussagen überein, der am Abend des 14. März 1945 in der Lahnstraße den entflohenen 19jährigen Häftling Adam Golub mit einem Genickschuss tötete. In den Berichten über den Todesmarsch ist er einer der Todesschützen, wenn nicht sogar Haupttäter, am Ende der Kolonne. Sogar ein SS-Unterscharführer bestätigt, dass er sich „damit gebrüstet hat, Häftlinge erschossen zu haben“.

Unerkannt in US-amerikanische Gefangenschaft geraten, konnte Weiß 1945/46 aus einem Lager bei Aschaffenburg fliehen und kehrte in seinen Heimatort nach Siebenbürgen in Rumänien zurück. Die 1960 aufgenommene Fahndung endete noch bevor sie richtig begonnen hatte. Das hessische Landeskriminalamt befragte kurioserweise den in Deuschland lebenden Bruder, der auch ehemaliger SS-Angehöriger war, über den Verbleib seines Bruders. Anschließend kam die Staatsanwaltschaft beim Landgericht zu der Erkenntnis, Weiß sei nunmehr vorgewarnt. Seine Einreise nach Deutschland sei nicht mehr zu erwarten, eine Fahndung im Inland ohne Aussicht auf Erfolg. Und da wegen fehlender Rechtshilfeabkommen nach Rumänien kein Zugriff bestand, wollte man 1964 das Verfahren einstellen. Doch der Generalstaatsanwalt spielte bei der Verfahrenseinstellung nicht mit. Der Frankfurter Staatsanwaltschaft wurde bedeutet, dass „die besondere Schwere der strafrechtlichen Vorwürfe gebührend zu berücksichtigen“ und Fahndungsmaßnahmen selbst bei geringen Erfolgsaussichten einzuleiten seien. Erst unter diesem Druck beantragte sie Haftbefehl gegen Weiß wegen Mordes, der am 6.7.1965 vom Amtsgericht Frankfurt erlassen wurde. Im Herbst 1967 – inzwischen gab es diplomatische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien – prüfte die Generalstaatsanwaltschaft, ob Schritte zur Übernahme des Strafverfahrens durch die rumänischen Behörden eingeleitet werden sollten. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft äusserte dagegen erhebliche Bedenken. Dabei leistete sie hohen argumentativen Aufwand. Unter anderem war sie besorgt, Weiß könnte in Rumänien schon deshalb eine empfindliche Strafe treffen, weil er der SS angehört hat. Das Hauptargument gegen ein Übernahmeersuchen war aber, „nach rumänischen Strafrecht könnte der Beschuldigte Weiß möglicherweise wegen der Straftaten zum Tode verurteilt werden...“ – die Todesstrafe war aber durch das Grundgesetz in der Bundesrepublik Deutschland abgeschafft. Gutachten, Stellungnahmen von Landes- und Bundesjustizminister folgten. Die deutsche Botschaft in Bukarest erörterte die Angelegenheit mit den höchsten rumänischen Behörden. Eine verbindliche Zusicherung, dass ein möglicherweise ausgesprochenes Todesurteil nicht vollstreckt, sondern in eine lebenslange Gefängnisstrafe umgewandelt werden würde, gab es nicht.

Der vielfache Mörder kam ungeschoren davon, gedeckt und beschützt vor einer Strafverfolgung auch durch die rumänische Justiz. Die Verlängerungsverfügung des auf Deutschland beschränkten Haftbefehls wurde vergessen, und der Staatsanwalt bemerkte 1984 zu den darin enthaltenen ungenauen Personalangaben, danach „dürfte allerdings kaum jemand festzunehmen sein...“ Der Bruder, bis 1994 für die deutsche Polizei als Dolmetscher tätig, beantwortete alle Fragen der Justiz über den Gesundheitszustand von Weiss, bis dieser 1995 im Alter von 79 Jahren in einer rumänischen Nervenklinik starb.