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“Wir kamen in Frankfurt am Main am 29.9.1944 gegen Nachmittag auf dem Güterbahnhof an. In von SS-Männern umstellten Gruppen zu je 100 Mann führte man uns durch einen zerstörten und fast menschenleeren Stadtteil und über die Anschlussgleise zu den Adlerwerken. Vom Augenblick des Abbiegens von der Straße in das Fabrikgelände durch teilweise zerstörte oder ausgebrannte Gebäude und Hallen begann das Schlagen und Treten. Das war der Anfang.”
Zusammen mit Zygmunt Kaczmarski machte Ryszard Kojer “Notizen über die Erlebnisse im Arbeitskommando in den Adlerwerken in Frankfurt am Main”, Typoskript, Warschau 23.11.1985. Viele der im Buch “Wir lebten und schliefen zwischen den Toten” verarbeiteten Schilderungen der Lebensbedingungen der Häftlinge sind ihnen zu verdanken.
“Es gab keine Möglichkeit, sich zu waschen. In den Waschräumen fehlte sehr oft sogar kaltes Wasser (ganz zu schweigen warmes). Seifenstücke, die einige noch aus Dachau mitgebracht hatten, waren längst verbraucht. Neue gab es nicht. Handtücher oder irgendwelche Lappen wurden nicht verteilt. (Glücklich war der, der ein Taschentuch besaß)”.
“Es wurde alles, was vor Kälte schützt, unter der Gefangenenbekleidung getragen: Decken, Zementtüten, man wickelte sich in Zeitungen oder irgendwelche, zufällig gefundenen Lappen. Alles das war, wenn es zufällig durch irgendeinen SS-Mann entdeckt wurde, Anlass für Schläge.”
Bei der Essensausgabe gab es gezielt provozierte Kämpfe. Ryszard Kojer und Zygmunt Kaczmarski berichten, dass es oft “mit Schlägen und Tritten endete, z.B. wenn die Suppe schlecht oder nicht gleichmäßig in die Schüsseln verteilt wurde, irgendwelche Reste im Kessel übrigblieben und sich die ausgehungerten Leute auf einen eventuellen Nachschlag stürzten. Dann war in den Händen der SS-Männer alles in Bewegung: Karabinerkolben, Schemel, Gummiknüppel, elektrische Kabel oder Eisenstäbe. Es kam auch vor, dass mit dem Karabiner geschossen wurde. Ab und zu wurde einer, der schon am Boden lag, bis zur Bewusstlosigkeit getreten.” Über den Stehbunker: “Die Entdeckung einer zivilen Jacke (irgendeines alten Fetzens, der in den Trümmern gefunden wurde), den ein Gefangener zum Schutz vor Kälte unter der Bekleidung trug, war Anlass für furchtbare Schläge und Einsperren in den ‚Bunker‘. Das war ein kleiner, feuchter Raum, der von der Halle, in der wir einquartiert waren, abgetrennt war.”
Den stellvertretenden Kommandanten, Emil Lendzian bezeichnen Kojer und Kaczmarski als “geborenen Sadisten” und “Psychopathen”, der sich durch “seine Bestialität beim Schlagen und Misshandeln sogar der Ohnmächtigen und Sterbenden hervortat. Dieser Sadist konnte einen schwer an Ischias leidenden Gefangenen mit einer Nadel stechen, um ihn zu zwingen, die vor Schmerz steifen Glieder zu bewegen.”
Über Eduard Behrendt, einen Kriminellen, der Ende Januar 1945 zum Lagerältesten ernannt wurde: “dass er die sich kaum auf den Beinen haltenden Häftlinge von den Pritschen warf und sie zwang, zum Spiel eines Akkordeons zu tanzen, war ein Beweis der Anomalität dieses Menschen – dass er aber die Gesichter der Toten sanft tätschelte und sie anlachte, zeigte, dass er komplett pervers war.”
Sie beschreiben einen von mehreren Fluchtversuchen, bei dem vier Russen erschossen wurden, weil sie versucht hatten, mit einer zurückgelassenen Brechstange die Mauer in einer entfernten Ecke der Halle hinter den Pritschen zu durchbrechen: “Es war ihnen gelungen, ein wenig Putz von der Wand abzuschlagen. Aber das war Grund genug, sie zum Tode zu verurteilen. Das Urteil wurde in einer abgelegenen Toilette im dritten Stockwerk des Gebäudes durch Schüsse in den Hinterkopf vollstreckt.”
Über den Umgang mit kranken Häftlingen: “ Die Kranken heilte man mit dem Stock. Der Vertreter des Kommandanten oder ein anderer SS-Mann [...] schlug solch einen kranken Gefangenen, der beim Appell vortrat und sagte, er sei krank, mit dem Stock, einem dicken Kabel oder Pritschenbrett. So eine ‚Heilbehandlung‘ verringerte natürlich den Krankenstand auf ein Minimum.”
Am 23.3.45 stand endgültig das gesamte Werk still. “Einige Tage lang taten wir nichts. Wir saßen auf der ‚Terrasse‘, klaubten die Läuse aus der Kleidung und zerdrückten sie zwischen den Fingernägeln. Dabei betrachteten wir den sonnigen Himmel, an dem ungestört die alliierten Flugzeuge kreisten. Es waren schon schöne warme Sonnentage. Es war ständig – Tag und Nacht – durchgehend Fliegeralarm, aber niemand fürchtete sich mehr davor und niemand versuchte mehr, sich in Sicherheit zu bringen.” Dann folgte jedoch der Evakuierungsmarsch, treffender auch als “Todesmarsch” bezeichnet.
Alle Zitate in: Kaiser/Knorn “Wir lebten und schliefen zwischen den Toten”, entnommen aus den Aufzeichnungen von Ryszard Kojer und Zygmunt Kaczmarski, 1985.