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Artikel von Zofia Uszynska, aus der Zeitung Zeitung ZYCIE (Das Leben) vom 02.11.97; Übersetzung von Elisabeth Tolksdorf

Die Qualen können nicht vergessen werden

Menschen starben im Herzen unserer Stadt - Erschütterte Deutsche wiederholten diese Worte

Zum ersten Mal trafen sie sich vor vier Jahren in den Werken, in denen sie vor über einem halben Jahrhundert als Gefangene arbeiteten. Das zweite Mal trafen sie sich vor zwei Wochen an dem Massengrab der 528 Mithäftlingen. Sie fühlen keinen Hass den Deutschen gegenüber und wollen keine Rache.

Heute leben nur noch sieben von denen, die nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes nach Dachau gebracht wurden und einige Tage danach zum Arbeiten in die Adlerwerke nach Frankfurt.

Vor 53 Jahren, im September, kamen sie als Gefangene nach Deutschland. „Ich glaube, ich hatte keine Angst, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was mich da erwartet," sagt Jan Kozlowski. Er war damals 17 Jahre alt. Vor seinen Augen wurden in den Warschauer Strassen Kinder, Frauen und Alte gemordet.

Ähnliche Erlebnisse fand Wladyslaw Jarocki vor. „Das Schlimmste hatten wir schon erlebt, aber alleine das Wort ‚Dachau’ erweckte in uns das Grauen."

Beide können sich genau an jeden einzelnen Tag während der Inhaftierung erinnern. Aufenthalt im Zwischenlager in Pruzkowie, Fahrt im Viehwaggon, Ankunft bei der Endstation in der Nacht. Auch den Moment, als sie aus diesen Waggons „entladen" wurden, da sie keine Kraft mehr hatten, auf ihren eigenen Beinen zu stehen. Dabei wurde der Waggon von einem SS-Mann mittels eines starken Scheinwerfers beleuchtet. Drumherum standen neugierige Menschen.

„Im Scheinwerferlicht sah ich die Aufschrift „Arbeit macht frei? (Anm. d. Übersetzenden: Fragezeichen bedeutet in diesem Zusammenhang: Was soll das? Was bedeutet dies?) und Dachau". Ein Mitgefangener, der neben dem Waggon stand, flüsterte: „Du kommst zu Fuß hierher, du verlässt diesen Ort aber nur über den Kamin." „Damals dachte ich, das ist das Ende meines Lebens. Auf einmal bekam ich Angst vor dem Tod," betont Jarocki.

Vergeben bedeutet nicht vergessen

1993 fuhren sie auf Einladung der Stadt nach Frankfurt. Einige Monate zuvor waren zwei deutsche Politologen auf Einladung von Wladyslaw Jarocki nach Warschau gereist. Sie unterhielten sich mit jenen, die das Lager überlebten und schrieben darüber in der deutschen Presse. Und zwei Jahre danach veröffentlichten sie das Buch „Wir lebten und schliefen zwischen den Toten". „Frankfurt ist eine schöne Stadt, so dass wir sie von dunklen Flecken säubern möchten."

Wladyslaw Jarocki erinnerte sich an die Jahre des Lagerlebens nur in seinen Träumen. „Da waren makabre, schwarz-weisse Bilder. Vor Angst pochte das Herz im Halse." Ähnliche Träume verfolgten auch Ryszard Olek: „Wenn wir uns trafen, sagte immer einer von uns: Lasst uns nicht zu den Träumen zurückkehren."

Die Frage „Und jetzt haben Sie keine Angst mehr, sich zu erinnern?" verneint Wladyslaw Jarocki mit fester Stimme. „Ich wollte sehen, wie der Platz heute aussieht, an dem ich die Hölle erlebt habe, wo die Menschen ihre Würde verloren haben, welche Menschen heute dort leben." Ryszard Olek ergänzt: „Ich musste über meinen eigenen Schatten springen. Noch bis vor kurzem schnürte sich mein Herz bei jeder deutschen Silbe, die ich hörte, zusammen." Ryszard Olek fuhr mit blutendem Herzen nach Frankfurt, da während der Evakuierung des Lagers sein Bruder getötet wurde. Dieser war schwer an Typhus erkrankt.

„Immer wieder denke ich daran, dass ich ihn vielleicht hätte retten können. Wenn ich gesagt hätte, er ist krank („krank" auf deutsch), hätten wir möglicherweise weglaufen können." Aber sein Bruder hatte ihn angefleht, ihn in Ruhe zu lassen, damit die Deutschen dort, wo er war, in Ruhe töten könnten.

„Wen sollte ich hassen?" fragt Jan Kozlowski. „Die größten Verbrecher sind schon lange hingerichtet worden! Die jungen Deutschen sind nicht für die Grausamkeiten des Krieges verantwortlich."

Sie geben zu, dass sie (die ehemaligen Lagerinsassen) verunsichert waren, wie sie empfangen wurden. „Überrascht waren sie von ihrer eigenen Herzlichkeit," sagt Ryszard Olek. „Ein Deutscher, der von einem Rednerpult aus über unsere Erlebnisse berichtete, hat geweint. Das war einfach unglaublich. Von diesem Moment an sah ich unsere Gastgeber mit anderen Augen."

Dann stand er in der Halle, in der er als Gefangener schlief und schaute aus dem Fenster auf die Gleise. An dieses Bild kann er sich noch von früher erinnern. Er konnte sich in seiner Phantasie vorstellen, wo sein Feldbett stand. „Ich sah mich und meine Bettnachbarn und wie wir jeden Tag beteten und Gott dankten, dass wir noch lebten." Er hat ein Stück Kitt von der Wand herausgebrochen, das er wie ein Relikt aufbewahrt.

„Ich schaute auf das Haus, welches mir bekannt und wiederum nicht bekannt erschien," sagt Jan Kozlowski. Wladyslaw Jarocki erzählt: „Wir waren von herzlichen Deutschen umgeben. Jenen, die sich selbst nicht vergeben können, dass es in ihrer Stadt ein Konzentrationslager (freie Übersetzung von „Lager des Sterbens") gab. Diejenigen, die sich an ihre eigene Geschichte ungern erinnern, sind zu unseren Treffen nicht erschienen. Zu den Treffen kommen Menschen der mittleren und jungen Generation."

Wladyslaw Jarocki betonte während des ersten Treffens in Frankfurt: „Wir sind nicht wegen der Almosen hierher gekommen, sondern weil wir eingeladen wurden."

Eine Handvoll Erde

Nach der Abfahrt in Frankfurt gründete sich ein Verein namens „Arbeit und Brot". Dank dieses Vereins wurde vor zwei Wochen ein Denkmal enthüllt, welches der ermordeten Gefangenen gedenkt. Wladyslaw Jarocki betonte noch einmal „uns interessieren keine Geschenke, sondern wir sind hergekommen um zu bezeugen, dass wir Opfer sind und keinen Hass gegenüber den Deutschen hegen. Die Rache gehört nicht zu unserem slawischen Naturell."

„Die Deutschen laden uns von Herzen ein und nicht, weil sie sich dazu verpflichtet fühlen," betont Ryszard Olek. „Selbstverständlich nur diejenigen, die sich vor der Welt zu ihrer Vergangenheit bekennen."

„Früher konnte ich mir die jetzigen Deutschen nicht vorstellen. Ich las von denjenigen, die vor den (Nürnberger) Prozessen flüchteten und von den jungen Neofaschisten. Nach diesen Treffen weiss ich, dass man nicht alle in einen Topf werfen kann. Das ist, wie wenn man zu trübem Wasser klares hinzugiesst, damit es klarer wird," führt Wladyslaw Jarocki aus.

Andrzej Cieslinski, Sohn eines Ermordeten der Adlerwerke, brachte eine Hand voll Erde aus seiner Heimat mit und streute diese über das Massengrab. „Damit mein Vater und diejenigen, die hier liegen, den Geruch der Heimat spüren. Damit sie sich daran erinnern, dass sie aus Warschau kamen."

Solange die letzten Zeugen leben

Das Denkmal am Massengrab wurde vom erschaffenden Künstler als versunkener Sarkophag bezeichnet. Sarkophag deshalb, weil gerade dies in seiner Phantasie den Opfern die verlorene Würde zurückgibt.

Der Sarkophag ist in die Erde „versunken", da Zeit die Vergangenheit verwischt hat. Ein Teil jedoch bleibt für die folgenden Generationen auf diese Weise sichtbar bestehen.

Eine Seite der Grabplatte zeigt einen Schmetterling auf, die andere einen Brotlaib.

Der Schmetterling ist Symbol für die Träume der Gefangenen zu fliehen, zu flüchten vom Ort der Qualen. Vom Brot haben sie alle geträumt, vor allem diejenigen, welche vor Hunger starben.

Auf dem Sarkophag findet sich folgende Inschrift: „Hier ruhen 528 Menschen. Sie starben zwischen September 1944 und März 1945 in den Adlerwerken Frankfurt am Main infolge unmenschlicher Arbeit. Sie wurden hingerafft von Hunger und aufgrund von Krankheit und Folter. Sie verloren ihr Leben im Zentrum Frankfurts..." Etwas tiefer ist ein Zitat von Bertolt Brecht aufgeführt: „Der Schoss ist noch fruchtbar, aus dem dieser Keim hervorgebracht wurde."

Wladyslaw Jarocki legte eine vergrösserte Kopie des Kreuzes auf das Grab, welches sich im Lager Auschwitz befindet. „Es wiegt soviel, wie das Kreuz in Auschwitz, multipliziert mit der Anzahl der Opfer in den Adlerwerken," fügt er erklärend hinzu.

Niemand wollte sterben

Jan Kozlowski wurde in den ersten Septembertagen 1944 von den Deutschen aus Powazek (Ortsangabe in Polen) geholt. „Ich war gerade 17. Ich konnte mich nie mit dem Sterben abfinden."

Während seines ganzen Aufenthaltes in den Adlerwerken hatte er Fluchtgedanken. Jede Möglichkeit dazu hat er wahrgenommen. Am 02.02.1945 gelang ihm in Eiseskälte die Flucht, indem er sich aus dem obersten Stockwerk abseilte. Nach drei Tagen wurde er aufgegriffen und in Genf monatelang inhaftiert. Ein Dokument, welches er ausgehändigt bekam, bescheinigt ihm, dass er der einzige ist, dem die Flucht aus den Adlerwerken auf diese Weise gelungen ist.

„Im Lager gewöhnt sich der Mensch an das Leben von einem auf den anderen Tag," erzählen die ehemaligen Gefangenen. „Na gut, heute leben wir und morgen, so Gott es will." Am schlimmsten war der Hunger, die Läuse und die Kälte. Ein deutscher Gefangener erzählte: „Ich habe schon viel gesehen, aber das lebendige Skelette laufen können..." Die Evakuierung des Lagers begann in der Karwoche. In Reihen zu fünf Personen untergehakt, damit sie sich gegenseitig stützen konnten, wurden sie zur Stadtgrenze getrieben. Kranke wurden auf Wagen hinterher gezogen. An der Stadtgrenze wurden die Kranken von der SS erschossen.

„Während des ganzen Weges dachte ich, wir seien wie Jesus auf dem Weg nach Golgatha," erinnert sich Wladyslaw Jarocki. „Vorher war ich nie praktizierender Katholik. Ich diskutierte über die Existenz von Gott. Aber bei diesem Marsch habe ich so viele Rosenkränze gebetet, wie mein ganzes Leben lang nicht. Die SS-Männer nahmen einige aus den Reihen heraus. Wenn mit dem Gewehr auf die entsprechende Person gezeigt wurde, war klar, dass diese Person gleich sterben muss."

Ryszard Olek hat sich während des Marsches zu einer Flucht entschlossen. „Es fiel gerade Schnee, mit Regen vermischt. Neben uns war Wald. Der Weg führte bergab..." Er ist gelaufen, er weiss nicht mehr, wie. Es ist ihm auch nicht mehr erinnerlich, wieviel Tage er im Gebüsch verbracht hat. „Und danach bin ich zu einem Deutschen, der auf dem Feld arbeitete, hin und bat ihn, er solle mich der SS melden, weil ich ein Pole bin, ein Bandit und aus dem Lager ausgebrochen. Da antwortete der Deutsche, dass es an dieser Stelle keine SS gäbe, sondern Amerikaner. Daraufhin bat ich ihn um ein Stück Brot."

Man brachte ihm einen grossen Laib Weissbrot. „Ich habe ihn in den Händen gedreht und ich lüge nicht, wenn ich sage, dass ich nicht wusste, ob ich ihn essen sollte, da ich an meinen hungrigen Vater und an meinen hungrigen Bruder dachte."

Der Bruder lebte damals schon nicht mehr. Der Vater, der an Typhus erkrankt war, war zu Beginn des Weges (an der Stadtgrenze) erschossen worden.

Danach nahmen die deutschen Männer Ryszard auf den Wagen und brachten ihn ins Dorf. Er bekam Kohlsuppe und gefüllte Gänsehälse zu essen, die aufgrund des langen Hungerns zu Koliken führten.

Es war schwierig zu begreifen, frei zu sein

Ryszard Olek kann sich weder an den Moment erinnern, noch was er fühlte, als die amerikanische Armee ihn befreit hat. „Ich glaubte nichts, ich fühlte nichts, denn ich war fast bewusstlos." Er wurde in ein deutsches Krankenhaus gebracht, hatte mehrere Wochen lang hohes Fieber, wog nur 38 kg. Erinnern kann er sich, dass er von deutschen Ärzten keine Medikamente einnehmen wollte. Er hatte Angst, sie würden ihn umbringen.

Ein ungarischer Priester verabreichte ihm bereits die Letzte Ölung. Der gleiche Priester hat einige Wochen später in einer Messe, an der auch Deutsche teilnahmen, ihn umarmt und zum Altar gebracht.

Wladyslaw Jarocki erlebte seine Befreiung im KZ Buchenwald. „Können Sie sich vorstellen, was das damals für mich bedeutete? Zum Beispiel, dass ich drei Schritte links oder auch rechts gehen kann. Dass ich mich nicht mehr melden muss, um zur Toilette zu gehen."

Alle Gefangenen haben sich ihre Freiheit ähnlich vorgestellt: Auf dem Tisch liegt ein Laib Brot, daneben ein Messer und jeder kann sich so viel davon nehmen, wie er mag.

„Ich träumte im Lager immer nur von meiner Mutter und von Brot," sagt WIadyslaw Jarocki.

Was geblieben ist, sind die Gräber

Der zwölfjährige Andrzej hat den Vater in Erinnerung behalten, als dieser das Haus zur Arbeit verlassen hat. Zwei Jahre nach Ende des Krieges in Polen informierte das Rote Kreuz die Mutter von Andrzej, dass dessen Vater Jan Cieslinski, am 04. März 1945 in Frankfurt am Main gestorben sei und auf dem dortigen Friedhof beerdigt wurde.

Der Sohn war überzeugt, dass das Grab seines Vaters schon lange nicht mehr existieren würde, als er in den neunziger Jahren einen Frankfurter traf. Jedoch erhielt er wenige Wochen nach dem Treffen ein Foto aus Frankfurt, auf dem das Grab seinen Vaters abgebildet war. „Ich hielt dieses Foto in meiner Hand und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten."

Ryszard Olek möchte, wenn sich die Situation ergibt, noch einmal nach Frankfurt kommen, „um den gemeinsamen Weg, den er damals mit seinem Bruder ging, nachzuempfinden."

Wladyslaw Jarocki sieht die Reisen als Pflicht an. „Wir sind lebendige Zeugen dessen, was auch die nächsten Generationen treffen kann," begründet er. Mit viel Unruhe beobachtet er die neue Entwicklung des Faschismus in Deutschland und Europa. „Brechts Worte sind leider aktuell," betont er.

Andrzej Cieslinski wird fahren, um einen Augenblick am Grab seines Vaters zu sein. Wie immer, wird er viele Fotos machen, denn diese sind das einzige Andenken an seinen Vater.

In der Nacht vom 11. zum 12. September 1944 wurden ungefähr 3500 Personen aus Warschau nach Dachau gebracht. Nach einem zweiwöchigen Aufenthalt im Lager wurden aus dieser Gruppe 1000 Gefangene ausgesondert. In den letzten Septembertagen wurden diese zur Arbeitskommandantur der Adlerwerke nach Frankfurt am Main verbracht. Ende November 1944 hielten sich dort 1139 Gefangene auf. An der Evakuierung im März 1945 waren nur noch 350 beteiligt. Zum Konzentrationslager Buchenwald sind 280 gelangt. (Einige wenige, die diesen Marsch des Sterbens überlebten, sind der Meinung, es seien nur 180 in Buchenwald eingetroffen. Das Ende der dritten Station erlebten nur 40 Personen. Im Jahr 1993 haben E. Kaiser und M. Knorn das einzige zu diesem Thema in deutscher Sprache erschienene Buch herausgebracht: „Wir lebten und schliefen zwischen den Toten". Den Autoren ist es gelungen, zu den überlebenden Opfern in Polen Kontakt aufzunehmen. Ryszard Olek träumt, dass jemand dieses Buch in die polnische Sprache übersetzen wird.

Artikel aus der Zeitung Zeitung ZYCIE (Das Leben) vom 02.11.97

Artikel von Zofia Uszynska, Übersetzung von Elisabeth Tolksdorf